Analysen und Kommentare
USA im Irak: Die vergessenen Lehren des Vietnamkriegs
MOSKAU, 05. Mai (Ilja Kramnik, RIA Novosti). Um 11.30 Uhr am 30. April 1975 wurde über dem Palast der Unabhängigkeit in Saigon eine rote Fahne gehisst.
Der zweite Indochinakrieg, der Ende der 50er Jahre ausgebrochen war, galt somit offiziell als beendet.
Der Verlauf des vor 33 Jahren beendeten Krieges und seine Folgen sind insofern interessant, weil sie Assoziationen mit dem jetzigen Krieg im Irak erwecken.
Der größte Krieg in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, erfasste Vietnam, Laos und Kambodscha. Der wichtigste Kriegsschauplatz war Vietnam, das laut den Genfer Abkommen von 1954 in einen nördlichen und einen südlichen Teil geteilt wurde. Gemäß den Bedingungen der Abkommen hätte sich Vietnam 1956 nach freien Wahlen wiedervereinigen sollen, aber das proamerikanische Regierung von Ngo Dinh Diem, die im Süden an die Macht kam, verkündete unter dem Bruch der Abkommen einseitig die Bildung der souveränen Republik Vietnam.
Bald nach der Verkündung des neuen Staates leitete die Regierung eine Agrarreform ein, die unter anderem durch die Aufhebung der ländlichen Selbstverwaltung begleitet wurde, und entfesselte Repressalien gegen die kommunistische Opposition. Im Ergebnis begann 1957 ein schleichender Partisanenkrieg.
1959 beschloss die Führung Nordvietnams mit Ho Chi Minh an der Spitze, die Partisanen des Südens zu unterstützen. Darauf bekamen die Partisanen Waffen und Militärberater. Ursprünglich wurden die Waffen über die entmilitarisierte Zone längs des 17. Breitengrads, der die Grenze zwischen beiden Vietnams kennzeichnete, geliefert. Bald kamen die Frachten unter Umgehung dieser Zone über den "Ho-Chi-Minh-Pfad": ein System von Straßen, die längs der Grenze zu Vietnam auf in Laos und Kambodscha verliefen. Inzwischen vereinigten sich die südvietnamesischen Partisanen zu einer einheitlichen "Nationalen Befreiungsfront Südvietnams" beziehungsweise der Vietcong.
In dieser Zeit griff der Krieg auf Laos über: Dort kämpften die Regierungskräfte gegen die prokommunistischen Partisanen der Bewegung Pathet Lao (Patriotische Front von Laos).
Der ausufernde Krieg zwang die USA, ihrer Marionette Diem zu Hilfe zu kommen. 1961 tauchten in Südvietnam die ersten Einheiten der US-Streitkräfte auf: zwei Hubschrauberstaffeln, die die Mobilität der südvietnamesischen Spezialeinheiten erhöhen sollten. Außerdem trafen in Vietnam zahlreiche amerikanische Militärberater ein.
Die instabile, bestechliche und unpopuläre Regierung Südvietnams sicherte der Vietcong und den sie unterstützenden Kräften Nordvietnams beträchtliche militärische Erfolge. Nur eine direkte Einmischung der USA hätte den Sieg der Vietcong, der unvermeidlich schien, verhindern können.
Ein Anlass für eine Intervention ergab sich am 2. August 1964: Laut offizieller amerikanischen Version griffen nordvietnamesische Schnellboote einen amerikanischen Zerstörer an, der in den neutralen Gewässern des Golfs von Tonkin für Aufklärungsaufgaben unterwegs war. Der Zwischenfall wiederholte sich in der Nacht des 4. August. Am Tag darauf flogen die Bordflugzeuge der US-Kriegsmarine die ersten Angriffe gegen Ziele in Nordvietnam. Noch am gleichen Tag nahm der US-Kongress die "Tonkin-Resolution" an, die den Präsidenten bevollmächtigte, militärische Gewalt in Südostasien anzuwenden.
Lyndon B. Johnson beeilte sich nicht, davon Gebrauch zu machen: Die Eskalation des Kriegs hätte ihm bei den Wahlen von 1964 schaden können, bei denen er als "Kandidat des Friedens" auftrat - im Unterschied zum "Falken" Barry Goldwater. Unterdessen führte die Vietcong ihre Offensive weiter und besetzte immer neue Gebiete des Landes. Nordvietnam unterstützte die Partisanen jetzt schon nicht mit Militärberatern, sondern durch seine regulären Truppen.
Im Ergebnis beschloss Johnson im März 1965, nach Vietnam ein Truppenkontingent zu entsenden. Zuerst setzte es sich aus zwei Bataillonen der Marineinfanterie, die den Flugplatz von Da Nang schützten, zusammen. Doch bis Jahresende stieg das US-Militärkontingent auf 185 000 Mann an. An der Küste Vietnams patrouillierten ständig starke Kräfte der US-Kriegsmarine; Flugzeugträger lagen an zwei Schlüsselpunkten: der Yankee-Station (zwei bis drei Flugzeugträger an der Küste Nordvietnams) und der Dixie-Station (ein Flugzeugträger an der Küste Südvietnams). Die US-Luftwaffe begann ihre erste lang angelegte Offensive gegen Nordvietnam (Operation Rolling Thunder).
Die unmittelbare Einmischung der USA in den Vietnamkrieg provozierte sofort eine Antwort des sozialistischen Blocks und brachte sogar die UdSSR und China ein wenig näher (die Beziehungen waren zu dieser Zeit bereits ziemlich angeschlagen). Seit dem Frühjahr 1965 lieferten die sozialistischen Länder massiv Waffen an Vietnam. Die sowjetische und osteuropäische Rüstung und Technik traf mit Schiffen im Hafen von Haiphong ein, China konnte Nachbarland Vietnam direkt über die Grenze versorgen.
Die US-Luftstreitkräfte unternahmen mehrmals erbitterte Angriffe gegen Haiphong, mieden jedoch dabei den Hafen und die Anlegestellen der Schiffe: Der Untergang eines Schiffs unter der Flagge der UdSSR oder eines ihrer Verbündeten hätte unvorhersagbare Folgen nach sich ziehen können.
Das Gros der sowjetischen militärischen Lieferungen machte die Technik und Ausrüstung der Luftverteidigung aus: Fla-Raketen-Komplexe, Geschütze, Radarsysteme. Geliefert wurden auch Jagdflugzeuge, aber in weit geringeren Mengen als im Koreakrieg. Der Vietnamkrieg wurde zu einer beeindruckenden Vorstellung der Luftverteidigungssysteme und bereicherte beide Seiten mit vielen Erfahrungen sowohl bei der Organisation als auch Bekämpfung der Luftverteidigung. Im Grunde bildeten sich in Vietnam die modernen Prinzipien des Aufbaus der Luftverteidigung heraus. Die Grundlage bildete die Kombination der leichten Luftabwehrartillerie mit Fla-Raketen verschiedener Reichweite. Nach den Ergebnissen von Vietnam gingen die USA daran, mit Präzisionswaffen ausgerüstete Eingreifflugzeuge in der Stealth-Technik zu entwickeln.
Die aktive Kriegsphase dauerte bis zum Frühjahr 1973. Einerseits verloren die USA keine einzige Schlacht, andererseits zählten sie 58 000 Tote und über 300 000 Verwundete, ohne einen merklichen Erfolg erzielt zu haben. Der Partisanenkrieg dauerte an und dehnte sich auf immer neue Gebiete und Territorien aus. Die USA mussten in den Krieg in Laos eingreifen, wo die von ihnen unterstützten und bewaffneten Hmong-Stämme das wichtigste Gegengewicht zur Pathet Lao wurden. Dann mischten sie sich auch in Kambodscha ein. Dort musste die proamerikanische Regierung von Lon Nol an die Macht gebracht werden, damit die Vietcong Kambodscha nicht mehr als Rückzugsgebiet nutzen konnte. Der Machtantritt Lon Nols bedeutete den Beginn eines Bürgerkriegs in Kambodscha. Seine Gegner waren die Einheiten der Roten Khmer unter der Führung von Pol Pot.
In den USA selbst bekam der Krieg immer mehr Gegner. Johnsons Nachfolger Richard Nixon befahl den Abzug der Truppen aus Vietnam. Dieser Beschluss war fatal für die Saigoner Regierung: Trotz der andauernden Unterstützung durch Militärberater und Waffen wurde der Krieg verloren. Die letzten amerikanischen Verbündeten konnten aus Saigon mit Hubschraubern der US-Kriegsmarine fliehen, und zwar wenige Stunden bevor auf die US- Botschaft die nordvietnamesischen Panzer rollten. Ein paar Wochen zuvor, am 17. April 1975, nahmen die Truppen der Roten Khmer die kambodschanische Hauptstadt Phnom Penh ein.
Die Beendigung des zweiten Indochinakriegs befriedete die Region nicht. Vier Jahre später musste Vietnam gegen Kampuchea (neuer Name Kambodschas) die Kämpfe führen, um die Regierung Pol Pots zu stürzen, der im Lande ein Terrorregime errichtet hatte. Praktisch gleichzeitig wurde Vietnam von China angegriffen, aber dieser Überfall wurde mit Unterstützung der UdSSR erfolgreich abgewehrt.
Zieht man Parallelen zu Irak, so drängt sich der Schluss auf, dass die Eskalation eines Konfliktes und die intensiven Kämpfe nicht zum Sieg führen: Für einen Sieg in Vietnam reichte nicht einmal ein Kontingent aus, das eine halbe Million Mann stark war. Aber zum Sieg führt auch nicht die Übergabe der Initiative an die örtlichen Verbündeten: In der Regel versinken sie in Streitereien und der Korruption, so dass sie gegen jede auch nur einigermaßen organisierte Kraft verlieren. Der Sieg kann in einem solchen Krieg nur erreicht werden, wenn politische, wirtschaftliche und militärische Methoden vernünftig miteinander kombiniert werden. Eine notwendige (wenn auch nicht hinreichende) Bedingung des Erfolgs ist das Vorhandensein eines der örtlichen Bevölkerung verständlichen Entwicklungsmodells. Ein solches Modell hatten die USA vor 30 Jahren in Vietnam nicht. Offenbar haben sie es auch in Irak nicht. Die Ergebnisse dieser beiden Kriege werden sich für die USA wohl kaum voneinander unterscheiden - es sei denn durch die Zahl der Todesopfer.
Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.
05 Mai 2008
Russ.Kommentar zum Irak-Krieg
Labels:
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