18 Juli 2005

Europäisches Haftbefehlsgesetz nichtig

Bundesverfassungsgericht - Pressestelle -Pressemitteilung Nr. 64/2005 vom 18. Juli 2005Zum Urteil vom 18. Juli 2005 – 2 BvR 2236/04 –

Europäisches Haftbefehlsgesetz nichtig

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat mit Urteil vom 18.Juli 2005 das Europäische Haftbefehlsgesetz für nichtig erklärt.

Das Gesetz greife unverhältnismäßig in die Auslieferungsfreiheit (Art. 16Abs. 2 GG) ein, da der Gesetzgeber die ihm durch den Rahmenbeschluss zumEuropäischen Haftbefehl eröffneten Spielräume nicht für eine möglichstgrundrechtsschonende Umsetzung des Rahmenbeschlusses in nationales Rechtausgeschöpft habe.

Zudem verstoße das Europäische Haftbefehlsgesetzaufgrund der fehlenden Anfechtbarkeit der (Auslieferungs-)Bewilligungsentscheidung gegen die Rechtsweggarantie (Art. 19 Abs. 4GG).

Solange der Gesetzgeber kein neues Ausführungsgesetz zu Art. 16Abs. 2 Satz 2 GG erlässt, ist die Auslieferung eines deutschenStaatsangehörigen daher nicht möglich.

Damit war die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers, der auf Grund eines Europäischen Haftbefehls zur Strafverfolgung an Spanienausgeliefert werden soll (Pressemitteilung Nr. 20/2005 vom 24. Februar2005), erfolgreich.

Der Beschluss des Oberlandesgerichts und die Bewilligungsentscheidung der Justizbehörde wurden aufgehoben. Der Richter Broß, der die Entscheidung im Ergebnis mitträgt, der RichterGerhardt und die Richterin Lübbe-Wolff haben der Entscheidung jeweils eine abweichende Meinung angefügt.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Das Europäische Haftbefehlsgesetz verstößt gegen Art. 16 Abs. 2 Satz1 GG (Auslieferungsverbot), weil der Gesetzgeber bei der Umsetzung desRahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl die Anforderungen des qualifizierten Gesetzesvorbehalts aus Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG nichterfüllt hat.
Grundlage des Verbots der Auslieferung Deutscher ist Art. 16 Abs. 2 Satz1 GG.
Das Grundrecht gewährleistet die besondere Verbindung der Bürger zu der von ihnen getragenen Rechtsordnung.
Der Beziehung des Bürgers zueinem freiheitlichen demokratischen Gemeinwesen entspricht es, dass derBürger von dieser Vereinigung grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden kann.
Der Schutz deutscher Staatsangehöriger vor Auslieferung kann allerdings nach Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG unter bestimmtenVoraussetzungen durch Gesetz eingeschränkt werden.
Die Einschränkung desAuslieferungsschutzes ist kein Verzicht auf eine für sich genommen essentielle Staatsaufgabe.
Die in der „Dritten Säule“ der EuropäischenUnion (polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen) praktizierte Zusammenarbeit in Form einer begrenzten gegenseitigen Anerkennung ist gerade auch mit Blick auf den Grundsatz der Subsidiarität ein Weg, um die nationale Identität und Staatlichkeit in einem einheitlichen europäischen Rechtsraum zu wahren.
Der Gesetzgeber war beim Erlass des Umsetzungsgesetzes zumRahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl verpflichtet, das Ziel des Rahmenbeschlusses so umzusetzen, dass die Einschränkung des Grundrechts auf Auslieferungsfreiheit verhältnismäßig ist.
Insbesondere hatte er dafür Sorge zu tragen, dass der Eingriff in den Schutzbereichdes Art. 16 Abs. 2 GG schonend erfolgt.
Mit dem Auslieferungsverbotsollen gerade auch die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes für den von einer Auslieferung betroffenen Deutschen gewahrt werden.
Der Grundrechtsberechtigte muss sich darauf verlassen können, dass sein dem jeweils geltenden Recht entsprechendes Verhaltennicht nachträglich als rechtswidrig qualifiziert wird.

Das Vertrauen in die eigene Rechtsordnung ist dann in besonderer Weise geschützt, wenn die dem Auslieferungsersuchen zu Grunde liegende Handlung einen maßgeblichen Inlandsbezug hat. Wer als Deutscher im eigenen Rechtsraum eine Tat begeht, muss grundsätzlich nicht mit einer Auslieferung an eine andere Staatsgewalt rechnen.

Anders fällt die Beurteilung hingegen aus, wenn die vorgeworfene Tat einen maßgeblichen Auslandsbezug hat. Wer in einer anderen Rechtsordnung handelt, muss damit rechnen, hier auch zur Verantwortung gezogen zu werden. Diesem Maßstab wird das Europäische Haftbefehlsgesetz nicht gerecht. Es greift unverhältnismäßig in die Auslieferungsfreiheit ein.

Der Gesetzgeber hat es versäumt, den grundrechtlich besonders geschützten Belangen deutscher Staatsangehöriger bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses hinreichend Rechnung zu tragen, insbesondere hat er die durch das Rahmenrecht vorgegebenen Spielräume nicht ausgeschöpft.
Er hätte eine grundrechtsschonendere Umsetzung wählen können, ohne gegen die bindenden Ziele des Rahmenbeschlusses zu verstoßen. So etwa erlaubt der Rahmenbeschluss den vollstreckenden Justizbehörden, dieVollstreckung des Haftbefehls zu verweigern, wenn er sich auf Straftaten erstreckt, die im Hoheitsgebiet des ersuchten Mitgliedstaates begangen worden sind. Für solche Taten mit maßgeblichem Inlandsbezug hätte der Gesetzgeber die Möglichkeit schaffen müssen, die Auslieferung Deutscher zu verweigern.
Darüber hinaus weist das Haftbefehlsgesetz eineSchutzlücke hinsichtlich der Möglichkeit auf, die Auslieferung wegen eines in gleicher Sache im Inland laufenden strafrechtlichen Verfahrens oder deshalb abzulehnen, weil ein inländisches Verfahren eingestellt oder schon die Einleitung abgelehnt worden ist. In diesem Zusammenhanghätte der Gesetzgeber die Regelungen der Strafprozessordnung daraufhin überprüfen müssen, ob Entscheidungen der Staatsanwaltschaft, von einerStrafverfolgung abzusehen, im Hinblick auf eine mögliche Auslieferung gerichtlich überprüfbar sein müssen.
Die Defizite der gesetzlichen Regelung werden auch nicht dadurch hinreichend kompensiert, dass dieRegelungen des Europäischen Haftbefehlsgesetzes die Verbüßung einer im Ausland verhängten Freiheitsstrafe im Heimatstaat vorsehen. Dies ist zwar grundsätzlich eine Schutzmaßnahme für die eigenen Staatsbürger, aber sie betrifft lediglich die Verbüßung der Strafe und nicht bereits die Strafverfolgung.

2. Durch den Ausschluss des Rechtsweges gegen die Bewilligung einerAuslieferung in einen Mitgliedstaat der Europäischen Union verstößt das Europäische Haftbefehlsgesetz gegen Art. 19 Abs. 4 GG(Rechtsweggarantie).
Das Europäische Haftbefehlsgesetz übernimmt teilweise die im Rahmenbeschluss vorgesehenen Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann. Dabei hat sich der deutsche Gesetzgeber im Wesentlichen für eine Ermessenslösungentschieden. Die Ergänzung des Bewilligungsverfahrens um benannte Ablehnungsgründe führt dazu, dass die Bewilligungsbehörde bei Auslieferungen in einen Mitgliedstaat der Europäischen Union nicht mehrnur über außen- und allgemeinpolitische Aspekte des Auslieferungsersuchens entscheidet, sondern in einen Abwägungsprozess eintreten muss, der insbesondere die Strafverfolgung im Heimatstaat zumGegenstand hat. Die Anreicherung des Bewilligungsverfahrens um weitere ermessensgebundene Tatbestände bewirkt eine qualitative Veränderung derBewilligung.
Die zu treffende Abwägungsentscheidung dient dem Schutz der Grundrechte des Verfolgten und darf richterlicher Prüfung nicht entzogenwerden.

3. Das Europäische Haftbefehlsgesetz ist nichtig. Der Gesetzgeber wird die Gründe für die Unzulässigkeit der Auslieferung Deutscher neu zufassen haben und die Einzelfallentscheidung über die Auslieferung als abwägenden Vorgang der Rechtsanwendung ausgestalten.
Des Weiteren sind Änderungen bei der Ausgestaltung der Bewilligungsentscheidung und ihres Verhältnisses zur Zulässigkeit notwendig.
Solange der Gesetzgeber kein neues Ausführungsgesetz zu Art. 16 Abs. 2Satz 2 GG erlässt, ist die Auslieferung eines deutschenStaatsangehörigen an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union nicht möglich.
Im Übrigen können Auslieferungen auf der Grundlage des Gesetzesüber die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) in der Fassungvor dem Inkrafttreten des Europäischen Haftbefehlsgesetzes erfolgen.

Zum Sondervotum des Richters Broß

Richter Broß folgt der Senatsmehrheit im Ergebnis, nicht aber in derBegründung. Das Europäische Haftbefehlsgesetz sei bereits deshalb nichtig, weil es nicht dem Subsidiaritätsprinzip (Art. 23 Abs. 1 Satz 1GG) Rechnung trage.
Eine Auslieferung deutscher Staatsangehöriger komme nur insoweit in Betracht, als eine Verwirklichung des staatlichen Strafverfolgungsanspruchs im Inland aus tatsächlichen Gründen im konkreten Einzelfall zum Scheitern verurteilt wäre. Nur dann sei der Weg für eine Aufgabenwahrnehmung durch die nächsthöhere Ebene – die Mitgliedstaaten der Europäischen Union – frei. Der Senat verkenne die Bedeutung und Tragweite des Grundsatzes der Subsidiarität und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, wenn er es für statthaft erachtet, bei Straftaten mit maßgeblichem Auslandsbezug eine Auslieferung deutscher Staatsangehöriger ohne jede materielle Einschränkungvorzusehen. Das Vertrauen des Verfolgten in die eigene Rechtsordnung sei gerade auch dann in besonderer Weise geschützt, wenn die dem Auslieferungsersuchen zu Grunde liegende Handlung maßgeblichen Auslandsbezug aufweist. Vor allem hier müssten sich die Schutzpflicht des Staates und der Grundsatz der Subsidiarität beweisen – nicht erstbei Straftaten mit maßgeblichem Inlandsbezug.

Zum Sondervotum der Richterin Lübbe-Wolff

Die Richterin Lübbe-Wolff teilt die Auffassung der Senatsmehrheit, dass das Europäische Haftbefehlsgesetz den Grundrechten potentiell Betroffener nicht hinreichend Rechnung trägt, folgt aber Teilen derBegründung und dem Rechtsfolgenausspruch nicht.

Um Verfassungsverstöße auszuschließen, hätte die Feststellung genügt, dass für bestimmte näherbezeichnete Fälle Auslieferungen auf der Grundlage des Gesetzes bis zum Inkrafttreten einer verfassungskonformen Neuregelung nicht zulässigsind.
Mit der Nichtigerklärung des Gesetzes werde dagegen die Auslieferung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls auch inverfassungsrechtlich völlig unproblematischen Fällen ausgeschlossen – beispielsweise sogar die Auslieferung von Staatsangehörigen des ersuchenden Staates wegen in diesem Staat begangener Taten.
DieBundesrepublik Deutschland werde so zu Verstößen gegen das Unionsrecht gezwungen, die ohne Verfassungsverstoß hätten vermieden werden können. Auf der Grundlage des gebotenen engeren Rechtsfolgenausspruchs müsste auch die nun fällige erneute Entscheidung des Oberlandesgerichts nicht notwendigerweise zugunsten des Beschwerdeführers ausfallen. Denn ob der Fall des Beschwerdeführers zu einer der Fallgruppen gehöre, für die die Regelungen des Europäischen Haftbefehlsgesetzes unzureichend sind, sei bislang nicht geklärt.

Zum Sondervotum des Richters Gerhardt

Nach Auffassung des Richters Gerhardt wäre die Verfassungsbeschwerde zurückzuweisen gewesen. Die Nichtigerklärung des Europäischen Haftbefehlsgesetzes stehe mit dem verfassungs- und unionsrechtlichen Gebot, Verletzungen des Vertrags über die Europäische Union möglichst zuvermeiden, nicht im Einklang. Der Senat setze sich in Widerspruch zurRechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, der in seinem Pupino-Urteil vom 16. Juni 2005 den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten bei der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen auch und gerade für die Umsetzung von Rahmenbeschlüssen hervorgehoben habe.
Die mit dem Auslieferungsverbot des Grundgesetzes verfolgten Schutzziele würden durch den Rahmenbeschluss und das Europäische Haftbefehlsgesetz erreicht. Der für die Auslegung des Rahmenbeschlusses zuständige Europäische Gerichtshof werde der Durchsetzung einer exzessiven Strafgesetzgebung eines Mitgliedsstaates entgegentreten. Das Europäische Haftbefehlsgesetz ermögliche es, dieAuslieferung in den Fällen abzulehnen, in denen die Durchführung eines Strafverfahrens im Ausland den Betroffenen unverhältnismäßig belaste.

Auch wenn die verfassungsrechtlich gebotene Verhältnismäßigkeitsprüfung im Gesetz nicht ausdrücklich erwähnt sei, bestehe nach der entsprechenden Klarstellung durch das Bundesverfassungsgericht kein Anlass für die Annahme, dass Behörden und Gerichte ihre selbstverständliche Pflicht zur Beachtung dieses Gebots missachteten. Ein Rechtsschutzdefizit liege nicht vor.

Urteil vom 18. Juli 2005 – 2 BvR 2236 /04 –Karlsruhe, den 18. Juli 2005