Zu Blockadeaktionen durch Errichtung physischer Barrieren
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1. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat sich erneut mit
der Strafbarkeit wegen Nötigung auf Grund der Teilnahme an
Blockadeaktionen befasst. Dem Beschluss vom 24. Oktober 2001 liegt zum
einen eine im Jahr 1986 erfolgte Blockade des Baugeländes der
Wiederaufarbeitungsanlage (WAA) Wackersdorf zu Grunde, bei der die
Teilnehmer sich mit Metallketten untereinander und an den Bauzaun
angekettet hatten. Zum anderen geht es um eine mehrtägige Kfz-Blockade
der BAB 5 und des Grenzübergangs Weil am Rhein aus dem Jahre 1990,
deren Teilnehmer die Einreise in die Schweiz und ein Gespräch mit dem
UN-Flüchtlingskommissar erzwingen wollten.
2. Der Erste Senat hat die Verfassungsbeschwerden gegen die
Verurteilungen wegen Nötigung zurückgewiesen. Zur Begründung seines
Beschlusses führt der Senat im Wesentlichen aus:
a) Das Gebot der Bestimmtheit der Strafandrohung (Art. 103 Abs. 2 GG)
ist nicht verletzt, wenn die Strafgerichte das Tatbestandsmerkmal der
Gewalt in § 240 StGB auf solche Blockadeaktionen anwenden, bei denen
die Teilnehmer über die durch ihre körperliche Anwesenheit verursachte
psychische Einwirkung hinaus eine physische Barriere errichten. Dies
war vorliegend der Fall.
b) Die Blockadeaktionen in Wackersdorf waren rechtlich als
Versammlungen i.S.d. Art. 8 Abs. 1 GG zu bewerten. Abs. 2 sieht
allerdings ausdrücklich vor, dass Versammlungen unter freiem Himmel
durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden dürfen.
Aufgrund des Versammlungsgesetzes war die Versammlung rechtswidrig, so
dass die Polizei die angebrachten Ketten zerschneiden und die
Demonstranten aus der Zufahrt entfernen durfte. Eine andere Frage ist,
ob an das Verhalten der Beschwerdeführerinnen auch eine strafrechtliche
Sanktion nach Maßgabe des § 240 StGB geknüpft werden durfte. Bei der
Anwendung der Verwerflichkeitsklausel dieser Strafnorm ist der
wertsetzenden Bedeutung des Art. 8 GG ebenso Rechnung zu tragen wie dem
in Art. 2 Abs. 1 GG verankerten Gebot schuldangemessenen Strafens. Ob
eine Handlung als verwerfliche Nötigung zu bewerten ist, lässt sich
ohne Blick auf den mit ihr verfolgten Zweck nicht feststellen. Erfolgt
das Verhalten - wie im Fall der Beschwerdeführerinnen - im
Schutzbereich des Art. 8 GG, muss die Bestimmung des relevanten Zwecks
von der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts geleitet sein. Aus
dem Blickwinkel des Art. 8 GG ist hierbei der Kommunikationszweck der
Versammlung maßgebend. Insofern kommt es vorliegend zunächst nicht auf
die mit der demonstrativen Blockade bewirkte Verhinderung der Zufahrt
an. Die Beschwerdeführerinnen wollten mit ihrer Aktion vielmehr zu
einer die Öffentlichkeit angehenden, kontrovers diskutierten Frage -
der friedlichen Nutzung der Atomkraft - Stellung beziehen. Da vom
Selbstbestimmungsrecht der Grundrechtsträger jedoch nicht die
Entscheidung umfasst ist, welche Beeinträchtigungen die Träger der
kollidierenden Rechtsgüter hinzunehmen haben, werden die näheren
Umstände der Demonstration für die Verwerflichkeitsprüfung bedeutsam.
Wichtige Elemente der hiernach gebotenen Abwägung zwischen der
Versammlungsfreiheit und den Rechten Dritter sind unter anderem die
Dauer und Intensität der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe,
Ausweichmöglichkeiten über andere Zufahrten, die Dringlichkeit des
blockierten Transports, aber auch der Sachbezug zwischen den in ihrer
Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen und dem
Protestgegenstand.
Der Senat stellt fest, dass die mit den Verfassungsbeschwerden
angegriffenen Urteile diesen Maßstäben nicht gerecht werden. Die
Gerichte haben Art. 8 GG im Zuge der strafrechtlichen
Verwerflichkeitsprüfung zu Unrecht unbeachtet gelassen. Dieser Fehler
hat sich jedoch nicht auf das Ergebnis ausgewirkt. Es erscheint nämlich
ausgeschlossen, dass die Strafgerichte bei hinreichender
Berücksichtigung des Grundrechts eine für die Beschwerdeführerinnen
günstigere Entscheidung getroffen hätten, wie der Senat ausführt.
c) Demgegenüber erfolgte die Blockade des Grenzübergangs an der
Autobahn nicht im Rahmen einer Versammlung nach Art. 8 GG, da diese
Aktion nicht der Kundgebung einer Meinung oder der Erregung
öffentlicher Aufmerksamkeit für ein kommunikatives Anliegen diente. Die
Blockadeaktion zielte nach den Feststellungen der Gerichte vielmehr
darauf, ein Gespräch mit dem Hohen Flüchtlingskommissar in Genf zu
erreichen und dafür die Einreise zu erzwingen. Art. 8 GG schützt die
Teilhabe an der Meinungsbildung, nicht aber die zwangsweise oder sonst
wie selbsthilfeähnliche Durchsetzung eigener Forderungen.
3. Dem Senatsbeschluss sind zwei Sondervoten zu den Verurteilungen aus
Anlass der Blockade in Wackersdorf beigefügt. Die Richter Jaeger und
Bryde verneinen das Vorliegen des Tatbestandsmerkmals der Gewalt aus
§ 240 StGB, die Richterin Haas legt dar, dass die Blockade ihrer
Auffassung nach gar nicht vom Schutzbereich der Versammlungsfreiheit
erfasst war.
Beschluss vom 24. Oktober 2001 - Az. 1 BvR 1190/90 u.a. -
Karlsruhe, den 19. Dezember 2001
19 März 1999
BVerfG: Blockade "Castor-Transporte"
Labels:
Demokratie,
Justizwoche,
Menschenrechte
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