05 Mai 2008

Altkanzler Schröder: Kosovo-Anerkennung war Fehler

BERLIN, 05. Mai (RIA Novosti). Mit der Anerkennung der einseitig ausgerufenen Unabhängigkeit der südserbischen Provinz Kosovo haben europäische Staaten nach den Worten des deutschen Altbundeskanzlers Gerhard Schröder einen Fehler gemacht, der ihren Interessen widerspricht.

Die Anerkennung des Kosovo sei verfrüht und deshalb falsch gewesen, sagte Schröder, heute Aufsichtsratschef des Pipelinekonsortiums Nord Stream, in einem Interview für RIA Novosti. Nach seinen Worten schafft die Anerkennung des Kosovo neue Probleme, statt die alten zu lösen.

Die Europäische Union habe in dieser Frage dem US-Druck nachgegeben. Die Anerkennung des Kosovo möge im amerikanischen Interesse liegen, im europäischen Interesse sei sie jedenfalls nicht, sagte Schröder.

Nach seinen Worten müsste Serbien in absehbarer Zeit EU-Mitglied werden. Das Kosovo hätte als Teil Serbiens der Europäischen Union beitreten oder eine staatliche Eigenständigkeit im Zuge eines gemeinsamen EU-Beitritts mit Serbien erlangen können.

Schröder zufolge kann der Kosovo-Streit nicht unter Ausschluss der proeuropäischen Kräfte um den serbischen Präsidenten Tadic gelöst werden. Mit der Anerkennung des Kosovo habe man diese Kräfte in Serbien geschwächt.


Exklusivinterview von Altbundeskanzler Gerhard Schröder

BERLIN, 05. Mai (RIA Novosti). Altbundeskanzler Gerhard Schröder gewährte ein Interview für die Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti.

RIA Novosti: Sie unterhalten gute Beziehungen zu Wladimir Putin. Und wie sehen Ihre Beziehungen zu Dmitri Medwedew aus? Sie kennen ihn doch auch nicht schlecht, immerhin gehörte er zu den Leitern von Gazprom.

Gerhard Schröder: Ich kenne Dmitri Medwedew seit vielen Jahren und schätze ihn als einen diskussionsbereiten und offenen Menschen, der sich von festen Prinzipien leiten lässt. Als stellvertretender Premierminister hat er gezeigt, dass er nicht nur wirtschafts- und sozialpolitische Kompetenz besitzt, sondern auch die Kraft hat, Entscheidungen durchzusetzen. Er hat die weitere Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in Russland zu einem Schwerpunkt seiner Arbeit erklärt. Ich bin sicher, dass er dabei erfolgreich sein wird. Seine internationale Erfahrung, die er bei vielen Terminen im Ausland erworben hat, ist unbestritten. Er wird den Weg fortsetzen, den Russland als ein stabiler und verlässlicher Partner in der internationalen Politik und als G8-Mitglied gegangen ist. Das betrifft die großen internationalen Herausforderungen, die nur mit und nicht gegen Russland gemeistert werden können, etwa die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen, die Lösung des Nahost-Konfliktes und die Bekämpfung des Klimawandels. Ich bin überzeugt, dass Russland unter dem Präsidenten Medwedew hierbei einen konstruktiven Beitrag leisten wird.

RIA Novosti: Der Westen meint, dass Dmitri Medwedew ein liberalerer Präsident sein werde als Putin. Wie denken Sie darüber?

Gerhard Schröder: Ich sehe zwischen Wladimir Putin und Dmitri Medwedew keine politischen Unterschiede. Sie haben ja beide zusammen die bisherige Politik Russlands geprägt. Im Übrigen werden die Politik und die Überzeugungen von Wladimir Putin im Westen häufig falsch eingeschätzt. Ohne Zweifel ist Russland heute eine offenere, demokratischere, stabilere und auch erfolgreichere Gesellschaft als vor Beginn der Amtszeit von Präsident Putin. Im Großen und Ganzen, und das hat der neue Präsident angekündigt, wird er die Politik von Wladimir Putin fortsetzen. Das ist auch der richtige Weg. Russland war in den vergangenen Jahren ein stabiler Faktor in unruhigen Zeiten der Weltpolitik, und ich bin sicher, dass Russland auch unter Präsident Medwedew ein stabiler Faktor bleibt.

RIA Novosti: Kurz vor dem NATO-Gipfel in Bukarest ist Deutschland gemeinsam mit Frankreich und einigen anderen europäischen Ländern dagegen aufgetreten, dass die Ukraine und Georgien unverzüglich in den Membership Action Plan aufgenommen werden. Dennoch erklärte die NATO, ihre Tür stehe nach wie vor allen offen, und versprach, auf den ukrainischen und den georgischen Antrag am Ende des laufenden Jahres zurückzukommen. Wie groß ist Ihrer Ansicht nach die Wahrscheinlichkeit, dass die Ukraine und Georgien in nächster Zukunft der NATO beitreten? Wird sich Deutschland bei der Erarbeitung seiner Position zu dieser Frage nur auf die Meinung der Partner aus dem Pakt orientieren oder auch die Position Russlands berücksichtigen, das entschieden die weitere Annäherung der NATO dicht an Russlands Grenze ablehnt?

Gerhard Schröder: Eine mögliche NATO-Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens wird von vielen, auch innerhalb des Bündnisses, skeptisch gesehen. Ich teile diese Skepsis. In der Ukraine ist eine Mehrheit der Bevölkerung gegen einen NATO-Beitritt. In Georgien haben wir bedenkliche innenpolitische Entwicklungen, zudem gibt es ungelöste Konflikte in und um Georgien, die man auf keinen Fall in die NATO hineintragen sollte. Mein Rat ist, dass man alles unterlassen sollte, was als eine Einkreisungs- oder Eindämmungspolitik gegenüber Russland missverstanden werden könnte. Ein Beitritt dieser Staaten wäre ein solcher Schritt.

RIA Novosti: Die einseitige Ausrufung der Unabhängigkeit des Kosovo hat vorläufig keine breite internationale Unterstützung gefunden, im Gegenteil, eine Reihe von Ländern, darunter auch Russland sowie einige Mitglieder der Europäischen Union, haben erklärt, dass die Handlungen der Kosovo-Behörden gegen das Völkerrecht und gegen die Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrates verstoßen. Nach Ansicht von Moskau haben jene, die die Ausrufung der Kosovo-Unabhängigkeit verstärkt unterstützten, doch nicht erklären können, worin konkret das Einzigartige der Kosovo-Situation besteht. Teilen Sie die These von dieser Einzigartigkeit? Kann die Selbsternennung des Kosovo zu einem unabhängigen Staat eine Kettenreaktion, einen Dominoeffekt in anderen Regionen verursachen, in denen so genannte "eingefrorene Konflikte" bestehen?

Gerhard Schröder: In der Tat: Mit der Anerkennung des Kosovo haben die meisten EU-Staaten und die USA nur neue Probleme geschaffen, anstatt ein Problem zu lösen. Das betrifft eben nicht nur den Kosovo, sondern auch die Konflikte, von denen Sie sprechen. Ich halte die Anerkennung des Kosovo für falsch, weil sie verfrüht ist. Es hätte auch andere Wege gegeben. Ich bin der Auffassung, dass Serbien in absehbarer Zeit EU-Mitglied werden muss, sofern das Land dies möchte. Der Kosovo hätte als Teil Serbiens Mitglied der Europäischen Union werden können oder man hätte eine staatliche Eigenständigkeit des Kosovo im Zuge eines gemeinsamen EU-Beitritts von Serbien und des Kosovo schaffen können. Der gegenwärtige Konflikt kann jedenfalls nicht ohne die proeuropäischen Kräfte um den serbischen Präsidenten Tadic gelöst werden. Mit der Anerkennung hat man jedoch diese Kräfte in Serbien geschwächt, vielleicht so stark, dass wir es bald mit einem isolierten und unberechenbaren Serbien zu tun haben. Um es ganz offen zu sagen: Hier hat sich die Europäische Union unnötig dem amerikanischen Druck gebeugt. Diese Entscheidung mag vielleicht im amerikanischen Interesse gewesen sein, im europäischen Interesse war sie jedenfalls nicht.

RIA Novosti: Deutschland wird von einigen Nachbarn beschuldigt, mit Russland "über ihren Kopf hinweg" Freundschaft zu halten. Das bezieht sich natürlich immer auf Nord Stream. Ist diese Gaspipeline denn für Polen, das Baltikum und Schweden wirklich so gefährlich? Zurzeit versuchen sie offensichtlich, den Bau auf jede Weise zu bremsen. Wird die Rohrleitung termingemäß in Betrieb genommen werden: die erste Baufolge 2011 und die zweite 2012?

Gerhard Schröder: Die Nord Stream-Pipeline ist gegen niemanden gerichtet, sondern sie wird einen wichtigen Beitrag zu einer verlässlichen Erdgasversorgung in Europa leisten. Sie ist auch kein rein deutsch-russisches, sondern sie ist ein europäisch-russisches Projekt. Daher hat die Europäische Union die Nord Stream-Pipeline als ein „Projekt von europäischem Interesse“ eingestuft. Mit diesem Beschluss sind alle EU-Mitgliedsstaaten verpflichtet, die Nord Stream zu unterstützen. Nord Stream erfüllt beim Bau und Betrieb selbstverständlich alle ökologischen und technischen Auflagen. Deshalb gehen wir davon aus, dass wir durch eine verkürzte Bauzeit und den intensiven Dialog mit den Ländern im Jahr 2011 Gas liefern können.

RIA Novosti: Wie kommt die Abstimmung des Verlaufs des maritimen Teils von Nord Stream mit den anderen Ländern voran? Wann wird der Verlauf endgültig bestätigt werden?

Gerhard Schröder: Auf Wunsch der Länder führt Nord Stream derzeit Untersuchungen zu Routenalternativen durch. Um den Zeitplan einzuhalten, wurden die Bauabläufe optimiert und die notwendige Zeit für die Genehmigungsprozesse in den Ländern geschaffen. Das weitere Vorgehen wird in internationalen Konsultationen mit allen Ostseeanrainerstaaten abgestimmt. Dieser Prozess wird einige Monate in Anspruch nehmen. Die konkrete Dauer hängt von der konstruktiven und ergebnisorientierten Mitwirkung aller Länder ab.

RIA Novosti: Aus welchen Gründen sind die Kosten für die Realisierung des Projektes Nord Stream (laut Einschätzung von Gazprom) bereits bis auf 7,4 Milliarden Euro gestiegen? Früher waren es rund 6 Milliarden Euro.

Gerhard Schröder: Das zuvor geschätzte Budget beruhte auf einer groben Kalkulation, die vor über zwei Jahren zu einem frühen Zeitpunkt der Projektentwicklung gemacht wurde. Seitdem sind eine Reihe wichtiger Faktoren in der Planung berücksichtigt worden. Ein wesentlicher Teil bezieht sich auf die erhöhten Ausgaben für Sicherheitsstandards und den Umweltschutz. Daneben haben die Preisentwicklungen auf dem Weltmarkt einen wesentlichen Einfluss auf die Kalkulationen genommen. Von dieser Entwicklung sind im Übrigen alle Infrastrukturprojekte betroffen.

KOMMENTAR

Schröders Alternativ-Szenario entspricht zwar meinen Vorstellungen, aber ist a) mal wieder vom Zeitgeschehen überholt, b) bei Schröder des Gazprom-Opportunismus verdächtig. -msr-