MOSKAU, 08. Juni (von Viktor Litowkin, militärischer Kommentator der RIA Nowosti).
US-Senator Samuel Nunn hat Russland wegen der Geheimhaltung seiner taktischen Atomwaffen scharf kritisiert und die Administration in Washington aufgefordert, mit Moskau eine Kontrolle darüber zu vereinbaren.
Auf Nunns Äußerung antwortete der russische Verteidigungsminister Sergej Iwanow: „Die Amerikaner sollten zuerst ihre taktischen Atomwaffen aus Europa abziehen. Erst dann werden wir über deren weiteres Schicksal sprechen können".
Tatsächlich gibt es weder eine internationale noch eine bilaterale Kontrolle über taktische Atomwaffen. Warum das?
Noch der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow hatte den Vereinigten Staaten vorgeschlagen, eine gegenseitige Kontrolle über taktische Atomwaffen einzurichten. Washington lehnte Verhandlungen darüber ab. Dennoch gingen beide Seiten am 28. September 1991 und 22. Januar 1992 bzw. am 5. Oktober 1991 und 29. Januar 1992 aufgrund von Gegenseitigkeit eine Reihe von einseitigen Verpflichtungen ein. So kündigten die USA die Vernichtung all ihrer bodengestützten taktischen Atomwaffen an, zu denen auch atomare Sprengköpfe für taktische Raketen und nukleare Artilleriegeschosse gehörten. Außerdem erklärte sich Washington bereit, alle taktischen Atomwaffen außer Dienst zu stellen und in zentralisierten Depots zu unterbringen: Sprengköpfe der seegestützten Flügelraketen auf Überwasserschiffen, inklusive Flugzeugträger, U-Booten und Fliegerkräfte der Kriegsflotte. Dieses Arsenal sollte zum Teil vernichtet werden.
Im Ergebnis verfügen die USA laut Angaben des Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) derzeit über insgesamt 1120 Sprengköpfe als nichtstrategische Atomwaffen: 800 Bomben B61 in drei Modifikationen und 320 Sprengköpfe W80-0 für Flügelraketen Tomahawk.
Die Sowjetunion (und später auch Russland) verpflichtete sich, alle nuklearen Sprengköpfe der bodengestützten taktischen Raketen, die gesamte atomare Artilleriemunition und alle Atomminen (die USA haben keine) zu vernichten. Darüber hinaus beschloss Russland die Hälfte der Atomsprengköpfe der Fla-Raketen zu vernichten und die andere Hälfte außer Dienst zu stellen und auf zentralen Depots zu unterbringen (die USA haben keine solchen Sprengköpfe). Zudem sollen alle taktischen Atomwaffen von Kriegsschiffen, Mehrzweck-U-Booten und der Luftstreitkräfte der Marine außer Dienst gestellt und auf zentralen Depots untergebracht werden (ein Drittel davon ist zu vernichten). Moskau kündigte zudem die Vernichtung der Hälfte seiner luftgestützten taktischen Atomwaffen an.
Laut SIPRI-Angaben zählen die russischen Atomwaffen heutzutage 3380 Sprengköpfe: Fliegerbomben AS-4 und AS-16, Sprengköpfe für seegestützte Flügelraketen, für Schiffsabwehrraketen und -torpedos.
Ob das stimmt oder nicht, ob die Seiten ihren einseitigen Verpflichtungen nachgekommen sind, darauf gibt es keine offizielle Antwort. Einseitige Initiativen sind nicht rechtsverbindlich und unterliegen keiner Kontrolle. Nur das Unglück des Atom-U-Bootes Kursk bestätigte, dass es dort keine Atomsprengköpfe gab: Weder die Torpedos noch die Flügelraketen Granit hatten atomare Sprengladungen.
Auch ist bekannt, dass die USA auf neun Stützpunkten in sechs europäischen Staaten (Belgien, Deutschland, Italien, den Niederlanden, der Türkei und Großbritannien) ihr taktisches Atomwaffenarsenal behalten: 150 Fliegerbomben B61 (90 davon im Fliegerstützpunkt Incirlik in der Türkei in der Nähe der russischen Grenzen). Für wen sind sie bestimmt? Als Kampfmittel gegen Terroristen taugen Atomwaffen ganz offensichtlich nicht. Die Besorgnis des russischen Verteidigungsministers Sergej Iwanow ist daher gut verständlich. Für die USA sind diese Bomben taktische Atomwaffen. Für Russland sind sie eine strategische Bedrohung, weil die Jäger F/A-18 Hornet, die diese Waffen tragen können, wenn sie von Nato-Stützpunkten starten, in fünfzehn bis zwanzig Minuten die russische Stadt Smolensk erreichen könnten.
Bei der Erörterung des Vertrags über die Reduzierung der strategischen Offensivpotentiale mit der neuen US-Administration schlug Moskau vor, auch taktische Atomwaffen in die Vereinbarung aufzunehmen. Warum wirft Senator Nunn, Spezialist auf dem Gebiet der Nuklearrüstungen, das Thema der „Untransparenz der russischen Atomarsenale" jetzt auf und warum kritisiert er den unzureichenden Schutz vor Terroristen? Dafür gibt es mindestens zwei Erklärungen. Erstens: Der US-Senat und der Kongress behandeln derzeit den Haushaltsplan für das nächste Finanzjahr, der im Juli beginnt, und das „russische Atomproblem" ist ein gutes Argument, um die Interessen der Rüstungsunternehmen und des Pentagons zu lobbyieren.
Die zweite Erklärung ist gewichtiger: Das Pentagon und sein Chef Donald Rumsfeld fordern vom Senat Geld für Entwicklung von Kleinatombomben, die auch tief in der Erde gelegene Ziele zerstören können. Der Senat lehnte diese Initiative bereits mehrmals ab. Außerdem fordern amerikanische Generale eine Wiederaufnahme der Atomtests auf dem Testgelände in Nevada, um Sprengköpfe für Raketenabwehrraketen für das NMD-Projekt zu erproben (die USA haben bekanntlich den Vertrag über das Atomtestverbot bisher noch nicht ratifiziert). Ohne atomare Sprengköpfe ist das US-Raketenabwehrsystem NMD ineffektiv. In diesem Hinblick ist die „Starrköpfigkeit Moskaus" ein sehr schwerwiegendes Argument für die Zweifelnden.
Ich glaube, Russland wäre bereit, mit den USA auch in Sachen taktische Atomwaffen nach Lösungen zu suchen, vorausgesetzt, diese Lösungen sind fair und partnerschaftlich.
08 Juni 2005
Nukleare Streitigkeiten zwischen Senator Nunn und Minister Iwanow
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